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Christian Ferencz-Flatz, “Günther Anders als Filmphí¤nomenologe”, Montage AV – Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation, 2020

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29 / 02 / 2020  FILMFARBEN

FilmfarbenEditorial:
Filmfarben

Iryna Marholina:
Ein Lied vom Rot
Farbe im sowjetischen Nachkriegskino

Sabine Lenk:
Farbtraditionen bei Laterna magica und im Stummfilm

Bregt Lameris:
Die í„sthetik der Zwei-Farben-Verfahren
Historiografische íœberlegungen zu Leiblichkeit, Farbe und Film
 (6 MB)

Barbara Flückiger:
Spielformen der Figur/Grund-Interaktion im Farbfilm
Eine typologische Bestimmung
 (18 MB)

Janna Heine:
Paranoia und Parodie
Farbspiele in  A Dragon Arrives!

In memoriam

Peter Wollen

Peter Wollen:
Blue

DOSSIER “¹GíœNTHER ANDERS”º

Reinhard Ellensohn und Kerstin Putz:
Günther Anders’ Schriften zum Film

Günther Anders:
Tonfilmphilosophie [1929]

Günther Anders:
Der 3D-Film [1954]

Christian Ferencz-Flatz:
Günther Anders als Filmphí¤nomenologe

AUSSERHALB DER SCHWERPUNKTE

Christine N. Brinckmann:
Der Zuschauerschatten im Dispositiv
Eine Skizze

Editorial: Methodologische Vielfalt der Farbforschung

«Das monochrome WeiíŸ ist Fülle. Das monochrome Schwarz dagegen ist die Abwesenheit von Farbe, ihre Nichtung », schreibt Peter Wollen in seinem Essay «Blue » über das gleichnamige kinematografische «monochrome Abenteuer » Derek Jarmans. Der Film  Blue  (GB 1993), der über die gesamte Filmlí¤nge eine unverí¤ndert blaue Leinwand zeigt, ist einerseits eine Reverenz an Yves Klein, andererseits aber auch das Ausloten der Grenzen des Kinoerlebens. Gleichzeitig gilt die Aufforderung an das Publikum, den Freiraum eines 74-minütigen blauen Bildes zu nutzen und seinen eigenen, imaginí¤ren Film zu entwerfen.  In nuce  zeigt sich hier Filmkunst als í¤sthetische Praxis, in der die Farbe noch in der stí¤rksten Abstraktion als Ausdruckskraft zur Geltung kommt. Doch wie kann man diese elementare Intensití¤t des Kinos methodisch in den Griff bekommen? Sich mit Farbe im Kinoerleben zu beschí¤ftigen, führt in die Gefilde unterschiedlichster Disziplinen, deren Grenzen sich in den Untersuchungen überschneiden. Der Fokus auf die Wahrnehmung streift die Neurobiologie ebenso wie die Psychologie oder die Physik; filmwissenschaftliche Forschungsfragen über í¤sthetische Farbgestaltung betreffen gleichermaíŸen die Kunstwissenschaft, Philosophie und Kulturtheorie. Methodisch betrachtet ist die medientheoretische und filmanalytische Auseinandersetzung mit Farbe also alles andere als «monochrom », sondern hochkomplex und vielschichtig. Farbe kann Kohí¤renz im diegetischen Raum der Erzí¤hlung stiften, sie kann aber auch quer dazu stehen – in allen Fí¤llen übernimmt sie eine Kommunikationsfunktion, die wiederum von kulturellen Kodierungen und Konventionalisierungen abhí¤ngig ist.

Farbdramaturgien im Sinne von Kontrasten und Kompositionen betreffen alle Bereiche des kinematografischen Artefakts: Kostüme, Licht- und Schattensetzung, Set- und Sound-Design bis hin zu Technikgeschichte und Postproduktion. Gattungs- und Genrekonventionen des Films gehen oft mit speziellen Farbikonografien einher. Insgesamt spielt die Beschí¤ftigung mit Farbe eine zentrale Rolle für die filmische Stilgeschichte. All diese Wechselwirkungen spiegeln in der komplexen Multimodalití¤t des Kinos die Herausforderungen der theoretischen und analytischen Auseinandersetzung mit der Farbe, deren materialí¤sthetische Fragen eng mit der Technikgeschichte verknüpft sind.

Entwicklung als multidimensionale Geschichte

So komplex wie ihre í¤sthetische, sinnliche und ikonografische Bedeutung ist auch die technische Entwicklung der Farbe im Film. Von den anfí¤nglich applizierten Farben – Hand- und Schablonenkolorierung, Virage und Tonung – zu den additiven Zwei- und Dreifarbenverfahren über Linsenrasterfilme bis hin zu den subtraktiven Verfahren, die sich in spí¤teren Jahrzehnten als Standard der Filmproduktion etablieren sollten, lí¤sst sich die Entwicklung der Farbe im Film als multidimensionale Geschichte unzí¤hliger Experimente, wiederholten Scheiterns, kurzer Erfolge und vieler Kompromisse beschreiben. Die daraus resultierenden Verfahren weisen eine beachtenswerte technologische Bandbreite auf, fuíŸend auf vielseitigen epistemologischen Strí¤ngen sowie physiologischen íœberlegungen und ideologischen wie í¤sthetischen íœberzeugungen.1

Bis in die 1980er-Jahre hat sich die Filmhistoriografie oft den technischen Aspekten des filmischen Bildes von einem eher deterministischen und teleologischen Standpunkt aus gení¤hert. Tatsí¤chlich wurde der Zeitraum zwischen 1895 und den frühen 1930er-Jahren als eher unbunt beschrieben, wí¤hrend Technicolor, und vor allem das vierte Technicolor- Verfahren, als Höhepunkt der Farbigkeit in die Geschichtsschreibung eingegangen ist. Entgegen dieser Meinung wurden bereits wí¤hrend den ersten Jahrzehnten des Kinos und bis in die spí¤ten 1920er-Jahre dutzende Farbfilmtechnologien erprobt: Eine groíŸe Anzahl der Filme dieser Zeit, die wir heute meist nurmehr als SchwarzweiíŸfilme kennen, bestachen das zeitgenössische Publikum durch ihre Farbigkeit. Die bunte Palette an Farbverfahren steht parallel zur übergreifenden Kultur der Farbe, welche die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts prí¤gte (vgl. Blaszczyk 2012).

Mit einer zuvor unbekannten Farbenvielfalt in Haushalt, Mode, Kunst und im Stadtbild formte die Konsumkultur auch die Erwartungen, die an das neue Massenmedium herangetragen wurden. In dieser Zeit entwickelten sich nicht nur die aufstrebende Filmindustrie, sondern auch ihre farbige Bildsprache und deren Konventionen.

Mit den 1930er-Jahren und den kulturellen, soziopolitischen und wirtschaftlichen Verí¤nderungen verí¤nderte sich auch die Filmproduktion. Zwar tüftelten weiterhin zahlreiche Erfinder:innen an neuen Verfahren, wí¤hrend sich Technicolor No. IV als funktionale Technologie für gröíŸere Produktionen etablierte und die animierten Filme von Len Lye, Oskar Fischinger oder Georges Pal in Gasparcolor, Dufaycolor oder Technicolor IV als avantgardistische Werbefilme zirkulierten. Jedoch lí¤utete das Jahrzehnt der Verí¤nderungen auch eine unfarbige Phase der Filmgeschichte ein. Tatsí¤chlich erweisen sich die oben genannten Beispiele ab den 1930er- und bis in die 1950er-Jahre eher als kurze farbige Akzente. Sogar zahlreiche Technicolor-Filme, notorisch für ihre Farbigkeit, entpuppen sich auf den zweiten Blick als Kreationen in dezenten, neutralen Farben, abgestimmt auf die dominierenden Diskurse der Farbkontrolle und -harmonien (Kalmus 1935; Batchelor 2000). Nur selten nimmt hier die Farbe überhand, vielmehr ist sie durchgeplant und funktional, stets im Dienste der narrativen Ebene und der Charakterzeichnung. Erst mit den 1960er- und 1970er-Jahren kehrte die Farbe als Standard in die Kinos ein, beflügelt vom Zeitgeist einer Epoche, die Farbe in einem Wirbel von Mod-Mode, Hippie-Bewegung, Psychedelika und wirtschaftlichem Aufschwung aufleben lieíŸ. Aus technischer Hinsicht wurde die filmische Farbigkeit ermöglicht durch subtraktive Verfahren wie Eastmancolor, welche sí¤mtliche Produktionsablí¤ufe betrafen und neue Farbí¤sthetiken erlaubten.

Seit den 1990er-Jahren und in Folge der wegweisenden Brighton-Konferenz 1978 zum frühen Kino reflektiert sich diese Komplexití¤t stí¤rker in der Geschichtsschreibung, was auch in der Abwendung von teleologischen Perspektiven begründet ist sowie im Heranziehen bisher nicht berücksichtigter Quellen, ferner der Verwendung von alternativen Forschungsmethoden und in den Möglichkeiten neuer, digitaler Forschungszugí¤nge. Bewegungen wie die New Film History schreiben neue Historiografien, welche die Wellenbewegungen der Farbe im Film mitreflektieren und den Nachweis erbringen, dass technologische Entwicklungen nie in einem Vakuum entstehen, sondern eng an kulturelle und gesellschaftliche Wandel geknüpft sind.

Komplexití¤t der Methodik

Gilt die 1978 von der Fédération Internationale des Archives du Film (FIAF) organisierte Brighton-Konferenz als Startschuss für eine neue Dekade der Forschung, in welcher Filmanalyse und Filmgeschichte nun zusammengedacht werden konnten, brauchte das Forschungsfeld “¹Farbe und Film”º etwas lí¤nger, bis es sich auf der wissenschaftlichen Agenda behaupten konnte. Sehr früh entdeckten beispielsweise Edward Branigan, Stephen Neale, John Belton oder Gert Koshofer das Forschungsfeld für sich. In den 1990er-Jahren wuchs das Interesse an Farbe im Film kontinuierlich, es entstanden zahlreiche Studien – beispielsweise von Jacques Aumont, Benoît Noí«l, Tom Gunning, Monica Dall’Asta oder Guglielmo Pescatore. Nach dem Workshop «Disorderly Order » 1995 im Filmmuseum (heute EYE) in Amsterdam, der sich grundlegend der Farbe im Stummfilm widmete, stieg die Zahl der Publikationen, die meist von Filmarchivar:innen und -kurator:innen stammten, rasant an. Der Fokus dieser Veröffentlichungen lag vor allem auf dem frühen Film, eng verbunden mit Diskussionen zur Restaurierungsethik und -praxis. Zusí¤tzlich wurden viele frühe Farbfilme restauriert. Die Festivals in Pordenone oder Bologna zeigen die Werke seitdem, sorgen für eine weitere Distribution des Wissens und tragen zur festen Verankerung der Farbforschung in der Filmwissenschaft bei. Hier ist Farbe mittlerweile zum etablierten Gegenstand geworden und findet sich in grundlegenden Monografien beschrieben (so etwa bei Susanne Marschall, Sarah Street, Federico Pierotti oder Joshua Yumibe, vgl. zudem die NECS-Workgroup «Color » und die Reader zum Gegenstand wie beispielsweise Angela Dalle Vacche / Brian Price 2006). Allen gemein ist, dass sich Farbe als Forschungsgegenstand aus einer Vielzahl von Perspektiven betrachten lí¤sst, woraus eine hohe Komplexití¤t der Methodik resultiert. Meist bleiben die methodischen und theoretischen Voraussetzungen dabei implizit – weshalb sich dieses Themenheft auch explizit als Einblick in die methodologische Vielfalt der Farbforschung versteht.

Im ersten Aufsatz untersucht Iryna Marholina die politische Dimension des Farbfilms: Nach ersten Experimenten mit der Farbe Mitte der 1930er-Jahre avancierte die Einführung des Farbfilms in der Sowjetunion ab 1945 zu einem politischen Schwerpunkt. Dabei bildet die Farbe ein neues, ideologisch noch nicht komplett reguliertes Moment, das Freirí¤ume öffnet, aber auch Reaktionen der Zensur provoziert. Ausgehend vom Gebrauch von Farbtechniken bei der Laterna magica im 19. Jahrhundert zeigt Sabine Lenk, welche Vorreiterrolle Pathé Frí¨res bei der Adaption von Kolorierungsverfahren zukam. Sie fragt darüber hinaus, warum Frauen zu wichtigen Akteurinnen bei der Masseneinführung von Farbkopien wurden. Bregt Lameris widmet sich der í„sthetik der Zwei-Farben-Verfahren und stellt historiografische íœberlegungen zu Leiblichkeit, Farbe und Film an. Einen speziellen Aspekt der Farbgestaltung im Film – das Verhí¤ltnis zwischen Figur und Grund – untersucht Barbara Flückiger. Anhand vieler Beispiele erarbeitet sie eine Typologie analytischer Kategorien, und zeigt, wie diese erzí¤hlerischen, semantischen oder stilistischen Funktionen erfüllen können. Solche íœberlegungen greift auch Janna Heine in ihrer Analyse von Mani Haghighis  Ejhdeha Vared Mishavad!  (A Dragon Arrives!, Iran 2016) auf. Sie untersucht, wie Farbe zum Einsatz kommt, um Konventionen zu sprengen, narrative Brüche zu erzielen oder falsche Fí¤hrten zu legen. SchlieíŸlich gedenkt Guido Kirsten des bedeutenden Film- und Kulturtheoretikers Peter Wollen, der im Alter von 81 Jahren gestorben ist. In seinem Essay über Derek Jarmans Film  Blue  geht Wollen der Frage nach, wie das Kino eine wahre Form des Sehens mit Hilfe von Farbe erschaffen kann: «Jarmans Blau ist nicht rein visuell. Es ist geschichtsgesí¤ttigt und von Sinn erfüllt. » Wir stellen diesen Text erstmals in deutscher íœbersetzung vor.

AuíŸerhalb unseres Schwerpunkts prí¤sentieren wir ein Dossier zu den filmtheoretischen Schriften des Philosophen Günther Anders, welche die lí¤ngste Zeit fast unbekannt geblieben sind; nur die wenigsten wurden zu seinen Lebzeiten publiziert. Soeben ist nun der von Reinhard Ellensohn und Kerstin Putz vorzüglich editierte Band seiner  Schriften zu Kunst und Film  erschienen. Wir nehmen dies zum Anlass, zwei von Anders’ Schriften vorzustellen: die Skizze einer Philosophie des Tonfilms von 1929, in der er den immanent widersprüchlichen Charakter des gerade seinen Siegeszug antretenden Tonfilms auslotet; und eine kritische Theorie des 3D-Films als neuartigem Gesamtkunstwerk, das zwar die Widersprüche zwischen Bild und Ton tendenziell überwinde, dafür aber mit anderen perzeptionslogischen Problemen zu kí¤mpfen habe. Gerahmt werden die beiden Artikel durch eine werkbiografische Einordnung der filmtheoretischen Schriften durch die Herausgeber:innen des Bandes sowie einen philosophischen Kommentar von Christian Ferencz-Flatz, der Anders’ Filmtheorie in dessen eigenwilliger Phí¤nomenologie verortet.

AbschlieíŸend widmet sich Christine Noll Brinckmann der Frage, welche í¤sthetischen Besonderheiten sich aus dem Zuschauerschatten im Dispositiv ergeben, und erörtert dabei die Konjunktur des Schattens in der Kinogeschichte über viele Jahrzehnte. So endet das Heft wie es beginnt: mit den elementaren Gestaltungsmitteln des Films – Farbe, Licht und Schatten.

Evelyn Echle für die Redaktion
Noemi Daugaard und Bregt Lameris als Gastherausgeberinnen

1Zu den verschiedenen Verfahren vgl. die Online-Ressource  Timeline of Historical Film Colors:  https://filmcolors.org/.

Literatur

  • Batchelor, David (2000)  Chromophobia. London: Reaktion.
  • Blaszczyk, Regina Lee (2012)  The Color Revolution. Cambridge, MA: MIT Press.
  • Kalmus, Natalie M. (1935) Color Consciousness. In:  Journal of the Society of Motion Picture Engineers  25,2, S. 139″’147 [Wiederabdruck in: Dalle Vacche, Angela / Price, Brian (Hg.) 2006) Color. The Film Reader. New York / London: Routledge, S. 24-29].

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Newsletter of Phenomenology – Number 637 (November 2024)

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